Im Parteiausschlussverfahren der SPD gegen Thilo Sarrazin wurde immer wieder auf die Meinungsfreiheit hingewiesen. Aber welche Rolle spielt diese hier wirklich?
Die Meinungsfreiheit ist in Art. 5 des Grundgesetzes festgeschrieben. Sie erlaubt es jedem Bürger, „seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“. Nicht anderes hat Herr Sarrazin getan, als er seine Bücher veröffentlicht, Interviews gegeben oder sich sonstwie politisch geäußert hat. Er kann sich damit zweifellos auf die Meinungsfreiheit berufen.
Trotzdem hat die SPD-Schiedskommission nach Medienberichten nun erstinstanzlich beschlossen, ihn aus der Partei auszuschließen. Das Parteiordnungsverfahren ist die einzige Möglichkeit, ein Mitglied aus einer politischen Partei zu entfernen. Der Parteiausschluss wiederum ist die einschneidendste denkbare Sanktion. Hätte die Partei dabei nun die Meinungsfreiheit beachten müssen? Verhindert die Meinungsfreiheit gar den Ausschluss?
Verstoß gegen Parteigrundsätze, schwerer Schaden
Beginnen wir zunächst einmal mit den rechtlichen Grundlagen:
- Das Parteiengesetz legt die Tatbestandsvoraussetzungen in § 10 Abs. 4 fest: „Ein Mitglied kann nur dann aus der Partei ausgeschlossen werden, wenn es vorsätzlich gegen die Satzung oder erheblich gegen Grundsätze oder Ordnung der Partei verstößt und ihr damit schweren Schaden zufügt.“
- § 35 des Organisationsstatuts der SPD wiederholt diese Regelung nur mit etwas anderen Worten, inhaltlich aber völlig identisch. Insbesondere werden keine Beispiele für solches schädigendes Verhalten aufgeführt wie dies bspw. die Satzung der CSU (§ 63 Abs. 1) tut.
Im Fall Sarrazin kommt in erster Linie ein Verstoß gegen die Grundsätze der Partei in Betracht. Denn aus Sicht verschiedener Funktionsträger der SPD, der sich nun auch die Schiedskommission angeschlossen hat, hat er sich entgegen grundlegender Positionen der SPD geäußert. Nun ist eben die Frage, ob ihn insoweit die Meinungsfreiheit schützt. Dafür wäre notwendig, dass die Meinungsfreiheit überhaupt anwendbar ist.
Unmittelbare Grundrechtsgeltung gegen Partei
Eine unmittelbare Geltung von Grundrechten setzt voraus, dass die SPD als politische Partei grundrechtsverpflichtet ist. Die Grundrechte binden aber grundsätzlich nur den Staat und dessen Organe.
Parteien sind Organisationen, die für den Staatsaufbau von besonderer Bedeutung sind. Insbesondere sind sie Wahlvorbereitungsorganisationen, die dafür sorgen, dass Verfassungsorgane überhaupt gewählt werden können. Die auf diese Weise gewählten Politiker einer Partei setzen dann (idealerweise) das Programm der Partei in geltendes Recht um.
Dabei ist jedoch zwischen dem Amtsträger und dem Parteipolitiker ebenso zu trennen wie zwischen dem Verfassungsorgan und der Partei. Eine Partei ist demnach kein Staatsorgan, sondern vom Staat unabhängig. Darum ist sie auch nicht an die Grundrechte gebunden.
Mittelbare Grundrechtsgeltung
Die Grundrechte könnten aber mittelbar gelten. Dies ist dann der Fall, wenn ein Gericht über einen Sachverhalt entscheidet. Zwar gelten zwischen den Beteiligten (SPD, Herr Sarrazin) die Grundrechte, siehe oben, nicht unmittelbar. Zwischen dem staatlichen Gericht und den Beteiligten gelten die Grundrechte aber sehr wohl. Dieser Konflikt wird dann dadurch aufgelöst, dass das Gericht Wertungen, insbesondere hinsichtlich unbestimmter Rechtsbegriffe, unter Beachtung der Grundrechte vornimmt.
Hier könnte man nun zunächst an den unbestimmten Begriff des „Verstoßes gegen die Ordnung der Partei“ denken. Dieser könnte unter Zugrundelegung der Meinungsfreiheit so auszulegen sein, dass Meinungsäußerungen nicht darunter fallen.
Insoweit muss man aber beachten, dass das gemeinsame Vertreten bestimmter Meinungen kennzeichnendes Merkmal einer Partei ist. Zwar muss und kann nicht jedes Mitglied exakt die gleichen Meinungen vertreten. Einen Grundkonsens gibt es aber trotzdem und dieser drückt sich jedenfalls in den zentralen Festlegungen des Parteiprogramms aus. Die Partei als Organisation der Meinungsbildung kann nicht dazu gezwungen werden, jedem Mitglied eine unbeschränkte Meinungsfreiheit zuzubilligen, ohne darauf reagieren zu können. Jedenfalls ein vorsätzliches, deutliches Abweichen von diesem Konsens muss daher als Ordnungsverstoß angesehen werden.
Schaden: Glaubwürdigkeits-/Ansehensverlust
Nun gibt es aber noch eine zweite Voraussetzung für einen Ausschluss, der ebenfalls vorliegen muss: Es muss ein schwerer Schaden für die Partei entstanden sein. Hier kommt nur ein immaterieller, also politischer Schaden für die SPD in Betracht. Ein solcher liegt vor, wenn Glaubwürdigkeit oder Ansehen der Partei aufgrund des Handelns ihres Mitglieds tatsächlich leiden.
Glaubwürdigkeit und Ansehen der Partei beziehen sich unverkennbar auf die Meinung der Öffentlichkeit. Deren Meinung über die Partei ist wesentlich davon abhängig, wie die Meinungsäußerung des Mitglieds in Beziehung zur Partei zu setzen ist. Insoweit muss man die Meinungsäußerung, wenn man die Meinungsfreiheit gebührend beachtet, stets in ihrem Kontext betrachten.
Schaden durch Meinungsstreit nur in Ausnahmsfällen
Grundsätzlich wird man wohl davon ausgehen können, dass die Bürger ihrerseits politisch tätigen Personen die Meinungsfreiheit zubilligen, also Aussagen von Einzelpersonen als individuelle Beiträge zur innerparteilichen Meinungsbildung verstehen. Diese ändern an der Glaubwürdigkeit und am Ansehen der Gesamtpartei daher eher nichts.
Eine Schadenszufügung dürfte dagegen in folgenden Fällen zu bejahen sein:
- Es handelt sich um eine strafbare Äußerung. (Argument: Wenn der Staat eine Sanktion an die Meinungsäußerung knüpfen darf, muss dies der Partei erst recht erlaubt sein.)
- Die Äußerung stellt eine krasse Abkehr von grundlegenden wahlrelevanten Aussagen gegenüber der Öffentlichkeit dar.
- Das Mitglied maßt sich an, für die gesamte Partei oder jedenfalls für eine größere Gruppe in der Partei zu sprechen.
Einschätzungsspielraum der Parteischiedsgerichts
Im Fall Sarrazin könnte man nur an die beiden letzten Fälle denken. Ob das nun tatsächlich vorliegt, wäre genau zu prüfen. Zu beachten ist insoweit, dass Herr Sarrazin zwar eine große öffentliche Aufmerksamkeit genießt, aber nicht als Aushängeschild der SPD wahrgenommen wird. Er spricht für sich selbst, als politischer Menschen oder als Autor, nicht selten auch in bewusster Abgrenzung zur offiziellen Meinung der Partei. Eine Verbindung seiner Thesen zur Programmatik der SPD wird kaum jemand herstellen.
Die Prüfung obliegt aber in erster Linie dem Schiedsgericht der Partei. Eine Kontrolle durch staatliche Gerichte findet nur in eingeschränktem Umfang und unter Wahrung des Ermessensspielraums der Parteischiedsgerichte statt.
Sollte die Schiedskommission die genannten Kriterien nicht angelegt haben, könnte der Ermessensspielraum des Schiedsgerichts aber überschritten sein. Ob Herr Sarrazin, wenn der Parteiausschluss auch von den höheren Schiedsgerichten bestätigt wird, vor die staatlichen Gerichte zieht, bleibt abzuwarten.